Over their dead bodies: „Race“, „Ethnizität“ und die Grenzen der Gerechtigkeit im zeitgenössischen Umgang mit menschlichen Überresten aus der Kolonialzeit

Bild von Jonatan Kurzwelly, daneben ein Bild von Kartons mit menschlichen Überresten an der Universität Göttingen, Foto: Jonatan Kurzwelly.

Jonatan Kurzwelly hält Lucian Scherman Lecture im Museum Fünf Kontinente in München

In seiner Lucian Scher­man Lecture „Over their dead bodies“ sprach Jonatan Kurz­welly am 5. Dezember im Museum Fünf Konti­nente in München über den ver­gangenen und heutigen Um­gang mit mensch­lichen Über­resten aus der Kolonial­zeit.

In der Vergangen­heit haben mensch­liche Überreste – ins­besondere Schädel – dazu gedient, verschiedene Formen der wissen­schaftlichen Rassifi­zierung und des Rassis­mus zu erzeugen. Auf diese Weise wurden Menschen auf fixe Vorstel­lungen von Identität reduziert und gewalt­same Systeme der Ausbeutung und Unterdrückung legitimiert. Uni­versitäten und Museen haben Tausende von sterb­lichen Über­resten aus der ganzen Welt ange­sammelt, von Menschen, die in der Vergangen­heit oft direkt oder indirekt zahl­reichen Formen von Unge­rechtigkeit ausge­setzt waren.

Der heutige Um­gang mit diesen „human remains“ will die proble­matische, gewaltsame Vergangen­heit aufar­beiten und sühnen, indem bestimmte menschliche Über­reste untersucht und häufig an deren Entwen­dungsort zurück­gegeben werden, wie Jonatan Kurzwelly betont: 

Seit Beginn der Exis­tenz dieser Sammlungen gab es immer wieder Fehler von Menschen, die eine Rück­gabe von solchen Gebeinen gefordert haben. […] Diese Rück­gaben geschehen mit einer aus­drücklichen Absicht, vergangenes Un­recht zu korrigieren.

Ungeachtet der unterschied­lichen Motivationen des derzeitigen Umgangs mit sterb­lichen Überresten stützt sich dieser oft auf essen­tialistische Kate­gorisierungen und ungenaue oder fehler­hafte Annahmen. Jonatan Kurzwelly proble­matisiert sozialen Essen­zialismus ebenso wie biologis­tische Konzepte von Rasse und Ethni­zität mit solchen Über­resten und stellt die Frage, ob und wieviel soziale Gerech­tigkeit mit der der­zeitigen Praxis überhaupt erreicht werden kann, wenn diese auf einer fehler­haften Logik beruht: 

Da ist die Frage: Welche Ansicht prio­risiert man, wenn man eigent­lich nicht weiß, wie der Mensch sich selber betrach­ten würde, wie der Mensch selber über sich gespro­chen hätte?

Kurzwelly ist Senior Researcher am PRIF und Leiter der Projekte „Over Their Dead Bodies: Grund­legende Axiome und aktuelle Nutzung und Handhabung mensch­licher Überreste aus institu­tionellen Sammlungen“ und „Wider­sprüche in Prozessen der Deradi­kalisierung“.

Die Lucian Scherman Lecture ist nach dem ehemaligen Leiter des Museum Fünf Konti­nente benannt. Lucian Scherman wurde im National­sozialismus aufgrund seiner jüdischen Ab­stammung seines Amtes beraubt. Viermal im Jahr werden im Rahmen der Veranstaltungs­reihe Schlüssel­themen der Ethno­logie und Museologie behandelt.

Die gesamte Lec­ture kann über den YouTube-Kanal des Museum Fünf Konti­nente nachge­schaut werden.