Insight Interview: Erinnerungskultur in Namibia und Tansania

Im Gespräch mit Núrel Bahí Reitz
Im PRIF Insight spricht Nurél Bahí Reitz über die Ergebnisse ihrer Feldforschung in Namibia und Tansania und ihren Wunsch, mit ihrer Arbeit das Wissen über die deutsche Kolonialgeschichte zu erweitern. Núrel Bahí Reitz ist Doktorandin des PRIF am Programmbereich Glokale Verflechtungen sowie der Universität Leiden.
Du hast in Namibia und Tansania Feldforschung betrieben. Was war das Ziel deiner Reisen?
Ich war 2023 drei Monate in Namibia und 2024 drei Monate in Tansania auf Feldforschung für meine Promotion, die ich im Kontext des TraCe Forschungszentrums schreibe. In meiner Forschung arbeite ich dazu, wie mit den deutschen Kolonialverbrechen im heutigen Namibia und Tansania umgegangen wird. Das Ziel der Reise nach Namibia war es zu erfahren, wie sich Auseinandersetzungen mit der Geschichte heute gestalten – insbesondere vor dem Hintergrund der Gemeinsamen Erklärung (Joint Declaration), die die Regierungen Deutschlands und Namibias 2021 zur Versöhnung veröffentlicht haben. Während meines Aufenthalts habe ich Gedenkveranstaltungen und -orte besucht, sowie ausführliche Interviews mit Personen geführt, die sich aktiv mit der Kolonialgeschichte beschäftigen. Ein besonderer Fokus lag dabei auf dem Völkermord, der zwischen 1904 und 1908 von den deutschen ‚Schutztruppen‘ begangen wurde. In Tansania bin ich ähnlichen Fragen nachgegangen.
Welche Eindrücke konntest du in der Feldforschung sammeln?
Im Allgemeinen hatte ich den Eindruck, dass die deutsche Kolonialgeschichte in Namibia deutlich präsenter ist als in Deutschland. Inzwischen setzen sich auch in Deutschland mehr Menschen mit diesem Teil der Geschichte auseinander, aber die Diskrepanz war auffällig. In Swakopmund, der wichtigsten Hafenstadt für die deutsche Kolonialadministration, hatte zum Beispiel jede von mir besuchte Buchhandlung mindestens ein Regal, das der deutschen Kolonialzeit gewidmet war und zum Beispiel Tagebücher von deutschen Soldaten und Siedler*innen, Familiengeschichten, aber auch kritischere Literatur zu dieser Zeit umfasste.
Die Präsenz der deutschen Kolonialgeschichte in Namibia wirft gleichzeitig die Frage nach ihrer Abwesenheit in Deutschland auf. Außerdem habe ich immer wieder gehört, dass auch die Erfahrungen mit dem südafrikanischen Apartheid-Regime eine wichtige Rolle für den heutigen Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte spielen. Einige meiner Interviewpartner*innen haben davon erzählt, wie Apartheid für viele als Festigung der sozialen Ordnung erfahren wurde, die von den Deutschen am Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt wurde. Da Apartheid erst vor wenigen Jahrzehnten abgeschafft wurde – Namibia ist erst seit 1990 unabhängig – ist es nicht überraschend, dass die Folgen der Kolonialgeschichte eng mit Alltagserfahrungen verwoben sind.
Trotz der Gemeinsamen Erklärung der deutschen und namibischen Regierungen […] ist der Prozess einer potenziellen Widergutmachung nicht abgeschlossen und daher für viele nach wie vor ein großes Thema.
Natürlich werden diese Folgen unterschiedlich erlebt und bewertet. Es gibt große Unterschiede im Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte innerhalb Namibias. So setzen sich nicht alle Namibier*innen kritisch mit der deutschen Kolonialgeschichte auseinander. Es wurde in meinen Gesprächen aber deutlich, dass für einige viel an der Deutung dieser Geschichte hängt – auch ganz existentielle Fragen. Für manche geht es dabei sehr grundlegend um eine Art Daseinsberechtigung im Land. Für viele steht das Land selbst in anderer Hinsicht im Mittelpunkt – sie stellen Fragen und Forderungen zur Umverteilung von Farmland, das während der deutschen Kolonialisierung enteignet wurde. Trotz der Gemeinsamen Erklärung der deutschen und namibischen Regierungen, die das Ergebnis jahrelanger zwischenstaatlicher Verhandlungen zum Umgang mit dem Völkermord gewesen ist, ist der Prozess einer potenziellen Widergutmachung nicht abgeschlossen und daher für viele nach wie vor ein großes Thema.
Im Februar dieses Jahres hast du eine Gedenkveranstaltung zum Majimaji-Krieg in Tansania besucht. Wie unterscheiden sich deine Eindrücke aus Namibia von denen aus Tansania?
Ich war von Februar bis Mai für meine Forschungen in Tansania, um eine vergleichende Perspektive auf den Umgang mit kolonialen Gewalttaten der Deutschen zu gewinnen. Zuerst habe ich das jährliche Maji Maji War Festival besucht. Die mehrtägige Veranstaltung gedenkt und feiert den bewaffneten Widerstand gegen die deutsche Kolonialisierung im südlichen Tansania zwischen 1905 und 1907. Ein paar Eindrücke zu der Veranstaltung habe ich in einem Beitrag in der Blogreihe des Leibniz-Forschungsverbundes „Wert der Vergangenheit“ geteilt, der zusammen mit TraCe meine beiden Feldforschungsaufenthalte mitgefördert hat.
Es wurden Ereignisse aus der Geschichte erzählt, inszeniert, zum Beispiel in Form von Märschen und Tänzen, es wurde Lobes -und Klagelieder gesungen, es wurde gebetet, es wurden politische Statements gemacht.
Während sich die Veranstaltungen, die ich in Tansania besucht habe, sich in mancher Hinsicht deutlich von den Gedenkveranstaltungen in Namibia unterschieden haben, gab es auch Gemeinsamkeiten. Es wurden Ereignisse aus der Geschichte erzählt, inszeniert, zum Beispiel in Form von Märschen und Tänzen, es wurde Lobes -und Klagelieder gesungen, es wurde gebetet, es wurden politische Statements gemacht. Was mich allerdings nach meinem Namibiaaufenthalt in Tansania überrascht hat, war, wie präsent die tansanische Regierung bei der Veranstaltung in Songea war. Während die Veranstaltungen in Namibia von unterschiedlichen Gemeinden abgehalten wurden und das Maji Maji War Festival in Tansania ebenfalls auf Betreiben der Ngoni Zivilbevölkerung in Songea heraus entstanden ist, wurde die Maji Maji Veranstaltung 2010 nationalisiert. Dieser Prozess der Nationalisierung hat den Charakter des Festivals den Berichten meiner Gesprächspartner zufolge stark verändert.
Während der Kern der Veranstaltung weiterhin hauptsächlich von lokalen Räten geplant und durchgeführt wird, bemüht sich das Ministerium für natürliche Ressourcen und Tourismus, die Veranstaltung zur Tourismusförderung im südlichen Tansania zu nutzen. Zu diesem Zweck war das Ministerium (aber auch andere staatliche Institutionen) mit Mitarbeitenden aus dem öffentlichen Dienst vertreten, die viel Raum auf der Veranstaltung eingenommen haben. Somit war der Staat während der Feierlichkeiten sehr präsent, was in Namibia überhaupt nicht der Fall war. Während einige Teilnehmenden hervorgehoben haben, dass die Nationalisierung der Veranstaltung seit 2010 neue Möglichkeiten aufgetan hat, sind nicht alle Veränderungen der letzten Jahre uneingeschränkt willkommen. Auch die vorgesehene Kommerzialisierung ist nicht bei allen – überhaupt oder im gleichen Maße – erwünscht, was teilweise zu Reibungen führt.
Allgemein hatte ich den Eindruck, dass die deutsche Kolonialgeschichte in Tansania weniger präsent ist als in Namibia, wobei sich das zu verändern scheint. Es gibt tansanische Familien, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen, und Künstler*innen, die sich wie in Namibia aktiv mit der Geschichte befassen. Sie plädieren für eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte oder stellen auch Forderungen an Deutschland. Solche Forderungen beziehen sich zum Beispiel auf Reparationen sowie die Rückgabe menschlicher Gebeine und kultureller Artefakte. So kam es, dass Bundespräsident Steinmeier im November 2023 das Maji Maji War Memorial Museum in Songea besucht hat, um eine Entschuldigung auszusprechen. Zudem hielt er einen privaten Empfang mit vier Vertreter*innen der Mbano Familie ab, deren Vorfahre eine entscheidende Rolle im Krieg gegen die Deutschen in Songea gespielt hat. An dieser Stelle kann ich den vor kurzem erschienenen Dokumentarfilm „Das leere Grab“ empfehlen, der unter anderem von der Suche der Mbano Familie nach dem Schädel dieses Vorfahren in Deutschland erzählt.
Der Vergleich zwischen tansanischem und namibischem Erinnern an die deutschen Kolonialverbrechen steht im Zentrum deiner Promotion. Was interessiert dich an diesem Thema besonders? Und wie ist die Verbindung zu TraCe?
Die Verbindung zu TraCe besteht darin, dass ich zu Deutungen historischer politischer Gewalt arbeite. Bis vor zehn Jahren, hat die deutsche Regierung nicht anerkannt, dass das, was in Namibia begangen wurde, ein Völkermord war. Diese Umdeutung von einem Kolonialkrieg, der mitunter verharmlosend als brutale Niederschlagung der Aufstände bezeichnet wird, zu Völkermord, hat Konsequenzen für den internationalen politischen Umgang mit der Geschichte: Der Beginn der Verhandlungen zwischen der deutschen und namibischen Regierungen 2015 war ein konkreter Schritt. Mich interessieren solche Prozesse der (Neu)Deutung historischer Ereignisse auf internationaler politischer Ebene, aber auch in Gemeinden und Familien. Die Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen finde ich besonders spannend.
Bis vor zehn Jahren hat die deutsche Regierung nicht anerkannt, dass das, was in Namibia begangen wurde, ein Völkermord war. Diese Umdeutung […] zu Völkermord, hat Konsequenzen für den internationalen politischen Umgang mit der Geschichte.
Als ich mit der Promotion begonnen habe, interessierte mich vor allem, wie unterschiedlich mit der historischen Gewalterfahrung in beiden Ländern umgegangen wird. Zu der Zeit waren die Verhandlungen zum Völkermord in Namibia gerade abgeschlossen. Dass die deutsche Kolonialregierung in Tansania zeitgleich ähnlich verheerende Gewalt gegen dortige Bevölkerungsgruppen eingesetzt und bis zu 300.000 Menschen getötet hat, war jedoch kein Thema in der Öffentlichkeit. So stellte sich mir die Frage, wieso die Kriegsverbrechen, die in Tansania begangen wurden, so anders bewertet werden. Um das zu verstehen, war es mir wichtig, dort zu recherchieren, wo die Ereignisse stattgefunden haben.
Deutschland steht immer wieder in der Kritik, sich nicht ausreichend an der Aufarbeitung der eigenen Kolonialverbrechen zu beteiligen. Was möchtest du mit deiner Forschung erreichen?
Es bewegt sich in diesem Bereich momentan sicher viel. Ich denke aber nicht, dass diese Kritik abnehmen wird, bis die Kolonialgeschichte an allen deutschen Schulen systematisch und kritisch beleuchtet wird.
In Tansania wie in Namibia waren viele meiner Gesprächspartner*innen schockiert davon, wie wenig Raum die deutsche Kolonialgeschichte und ihre Verbrechen im deutschen Schulunterricht findet. Teilweise war es genau dieser Punkt, der sie dazu bewegt hat, einen anderen Standpunkt einzunehmen. Es hieß dann nicht mehr, dass wir die Geschichte hinter uns lassen und nach vorne schauen sollten, sondern dass Deutschland eine Verantwortung hat, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Bis das passiert, wird es trotz aller Bemühungen schwierig sein, glaubhaft zu machen, dass es Deutschland mit der Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte ernst meint. Das geht nur, wenn die deutsche Bevölkerung ihre koloniale Geschichte kennt.
Das Bewusstsein für eine gemeinsame Geschichte kann dazu beitragen, historische Zusammenhänge besser zu verstehen, […] Ungerechtigkeiten anzuerkennen und Ansatzpunkte für Konflikttransformation zu finden.
Ich würde mich freuen, wenn meine Forschung zu dieser Aufarbeitung einen Beitrag leisten kann – wenn sich durch meine Arbeit vielleicht mehr Menschen mit der Kolonialgeschichte befassen und eine Idee davon bekommen, was die Ereignisse des frühen 20. Jahrhunderts auch heute noch für diejenigen bedeutet, deren Vorfahren sie erleben mussten. Um ein Verständnis für die europäische Kolonialgeschichte und ihre Folgen zu entwickeln, müssen wir lernen, solche unterschiedlichen Perspektiven einzunehmen. Die deutsche Kolonialisierung und die Gewalt, mit der sich meine Forschung befasst, hat ganze Gesellschaften in Tansania und Namibia grundlegend verändert. Sie hat auf andere Weise auch die deutsche Gesellschaft verändert. Ich finde es wichtig, solche Dynamiken zu erforschen und unterschiedliche historische Erfahrungen zusammenzubringen. Das Bewusstsein für eine gemeinsame Geschichte kann dazu beitragen, historische Zusammenhänge besser zu verstehen, daraus entstandene Ungerechtigkeiten anzuerkennen und Ansatzpunkte für Konflikttransformation zu finden.