Friedensforscher fordern im Ukraine-Krieg: Druck für Verhandlungen erhöhen, globale Auswirkungen abfedern

Friedensgutachten 2022 vorgestellt

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat weltweit politische, wirtschaftliche und soziale Folgen. Diese stehen im Mittelpunkt des Friedensgutachtens 2022, das heute von Deutschlands führenden Friedensforschungsinstituten auf der Bundespressekonferenz vorgestellt wurde. Wegen der steigenden Rohstoffund Lebensmittelpreise drohen insbesondere afrikanischen Ländern Ernährungskrisen und politische Unruhen. Mögliche geostrategische Implikationen sind das Entstehen einer russisch-chinesischen Interessenkoalition, aber auch die Gefahr einer nuklearen Eskalation. Das Gutachten legt Empfehlungen an die Bundesregierung für die geplante Nationale Sicherheitsstrategie und eine neue europäische Friedensordnung vor.

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat unermessliches Leid über die Zivilbevölkerung gebracht und große Teile des Landes zerstört. Auch die europäische Sicherheitsarchitektur liegt in Trümmern. In ihrem heute vorgestellten Friedensgutachten nehmen Deutschlands führende Friedensforschungsinstitute Stellung: Was hat zu diesem Krieg geführt und welche Möglichkeiten gibt es, der Logik von Konfrontation, Gewalt und Krieg zu entkommen? In ihren konkreten Empfehlungen an die Bundesregierung zeigen sie auf, wie der Politik der Spagat zwischen Wehrhaftigkeit und Druck auf der einen und Friedensfähigkeit auf der anderen Seite gelingen kann.

(Miss)erfolge von Sanktionen überwachen und Druck machen für Verhandlungen

Die Waffenlieferungen an die Ukraine und die Sanktionen gegen Russland sollten dem Zweck dienen, Druck auf den Aggressor auszuüben und ihn zu ernsthaften Verhandlungen zu bewegen. Die EU hat schnell, umfassend und mit großer Geschlossenheit auf den russischen Angriffskrieg reagiert. Die Sanktionen, die gegen den Aggressor verhängt wurden, sind in ihrer Härte präzedenzlos und haben dazu beigetragen, dass das militärisch vermeintlich überlegene Russland bei seinem Angriff auf die Ukraine bislang nur begrenzt erfolgreich war. Als außenpolitisches Instrument können Sanktionen gegen einen Staat, der internationale Regeln verletzt, als Druckmittel eingesetzt werden. Allerdings lösen sie keine Krisen und können im schlechtesten Fall Notlagen verschärfen und politische Repression und Korruption befördern. Deshalb sei es wichtig, Sanktionen klar zu kommunizieren und ihren (Miss-)Erfolg zu überwachen, so die Wissenschaftler:innen.

Antwort auf die Gefahren des Wettrüstens: Verzicht der NATO auf den atomaren Ersteinsatz 

Der Ukrainekrieg erhöht das Risiko einer nuklearen Eskalation massiv – und das in einer Zeit, in der internationale Verträge zur nuklearen Rüstungskontrolle auslaufen oder erodieren und die Verhandlungen über das iranische Atomprogramm ins Stocken geraten sind. Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden. Deutschland sollte sich deshalb dafür einsetzen, die Verbreitung und den Ausbau der nuklearen Arsenale zu verhindern, fordern die Friedens- und Konfliktforscher:innen. Sie schlagen zudem vor, dass die NATO den Verzicht auf einen nuklearen Ersteinsatz erklärt. Strategien für eine neue europäische Friedensordnung entwickeln
Wichtig sei schon jetzt, die Zeit nach dem Krieg zu planen und Strategien für eine neue europäische Friedensordnung zu entwickeln. Die Europäische Union müsse auf die außen- und sicherheitspolitische Zeitenwende reagieren. Ihre dringendste Aufgabe sei es nun, in der Außen- und
Sicherheitspolitik agiler und handlungsfähiger zu werden und unter anderem die Entscheidungsverfahren innerhalb der EU zu beschleunigen, fordern die Wissenschaftler:innen.

Die globalen Auswirkungen des Ukrainekrieges im Blick behalten

Der Ukrainekrieg hat die Rohstoff- und Lebensmittelpreise stark ansteigen lassen. Insbesondere den afrikanischen Entwicklungs- und Schwellenländern droht eine Ernährungskrise. Mittelmeeranrainer und viele ostafrikanische Staaten sind von den Getreidelieferungen aus Russland und der Ukraine abhängig. Diese Länder sind politisch hoch volatil. In der Vergangenheit waren steigende Lebensmittelpreise dort immer wieder Anlass sogenannter „Brotaufstände“ und führten zu einer Eskalation von Gewalt. Das Friedensgutachten 2022 benennt diese Folgen des Ukrainekrieges ebenso wie seine geostrategischen Implikationen, zu denen das mögliche Entstehen einer neuen russisch-chinesischen Achse zählt. Die Autor:innen warnen jedoch davor, den Gegensatz zwischen Demokratie und Autokratie zu einem neuen Systemkonflikt zu überhöhen.

Feministische Außenpolitik zeigt neue Perspektiven auf

Krisen und Konflikte verschärfen das ohnehin große Risiko für Frauen und LGBTQI*-Minderheiten, Opfer von Gewalt zu werden. Zusätzlich versuchen autoritäre Regime weltweit, Fortschritte in der Geschlechtergerechtigkeit zurückzudrehen. Feministische Außenpolitik richtet den Blick auf gesellschaftliche und internationale Machtungleichgewichte, die vielen Konflikten zu Grunde liegen, und sie zeigt auf, wie imperiale Ansprüche aus einem gefährlichen Verständnis von Männlichkeit begründet werden. Sie legt den operativen Fokus auf Gewaltprävention.

Zahlreiche Gewaltkonflikte weltweit – Afrika als Krisenhotspot

Ungeachtet des Ukrainekrieges ist weltweit die Anzahl gewaltsamer Konflikte erneut gestiegen. Von den insgesamt 128 Konflikten, die 2020 gezählt wurden, fanden 78 auf dem afrikanischen Kontinent statt. Dies ist vor allem auf das Erstarken dschihadistischer Gruppen zurückzuführen. Al-Kaida, der Islamische Staat (IS) und verbündete Gruppen dominierten das Konfliktgeschehen. Dabei ist zu beobachten, dass der militante Islamismus zunehmend durch salafistische Ideologien geprägt wird. Dies stellt die internationale Staatengemeinschaft vor große Herausforderungen. Verhandlungslösungen mit dschihadistischen Gruppen sind schwer zu erreichen. Doch sollte der Verhandlungsweg mit jenen versucht werden, die sich vom transnationalen Dschihadismus und der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung distanziert haben. Eine restriktive Rüstungsexportpolitik, gezielte diplomatische Initiativen und eine Stärkung regionaler Organisationen können dazu beitragen, die Konflikte einzudämmen.

Innerstaatliche Sicherheitsinstitutionen demokratisch kontrollieren

Die Terroranschläge vom 11. September 2001, der erstarkende Extremismus und zuletzt die Corona-Pandemie haben dazu geführt, dass die Kompetenzen und Befugnisse westlicher Sicherheitsbehörden stetig ausgeweitet wurden. Viele der ursprünglich befristeten Regelungen wurden in dauerhaftes Recht überführt. Trotz sinkender Opferzahlen wurden neue und schärfere Gesetze beschlossen. Künftige Sicherheitsgesetze sollten deshalb durch eine unabhängige Kommission begleitet werden, fordern die Wissenschaftler:innen.

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