Weltweite Massenproteste, ausgelöst durch verschiedene sozioökonomische und politische Missstände, haben das vergangene Jahrzehnt geprägt. In der Protest- und Bewegungsforschung wurde jedoch ein wichtiger Aspekt der Mobilisierung bisher weitgehend vernachlässigt: die Rolle des Vertrauens. Dieser Aspekt steht im Mittelpunkt der Sonderausgabe des „International Journal of Comparative Sociology“, die im Winter 2024/2025 erscheint. Alle Beiträge sowie die Einleitung von Nadine Sika, Federico Rossi, Irene Weipert-Fenner und Jonas Wolff stehen bereits jetzt online zur Verfügung.
Beteiligen sich Aktivist*innen und Gruppen an kollektiven – potenziell riskanten – Aktionen für ein gemeinsames Ziel, verlassen sie sich auf die Erwartung, dass ihre Mitstreiter*innen und Verbündeten sie nicht enttäuschen werden. Bis heute ist jedoch wenig über die Ursachen und die Dynamik der Vertrauensbildung während Mobilisierungsprozessen bekannt. Das Gleiche gilt für die Folgen des Vertrauens: Inwieweit tragen unterschiedliche Arten und Intensitäten des Vertrauens in sozialen Bewegungen dazu bei, Formen und Ergebnisse der Mobilisierung zu erklären?
Die Sonderausgabe „Trust and Social Movements“ des „International Journal of Comparative Sociology“ wird sich mit dieser vielversprechenden Forschungslücke befassen und bisher weitgehend getrennte Forschungsansätze zu sozialen Bewegungen sowie zu Vertrauen miteinander vereinen. Diese systematische Kombination, so betonen die Herausgeber*innen Irene Weipert-Fenner, Federico Rossi, Nadine Sika und Jonas Wolff in ihrer Einleitung, stellt die Weichen für ein differenzierteres Verständnis der Entstehungsbedingungen von Massenprotesten, ihres Fortbestehens und insbesondere ihrer Entwicklung zu breiteren und nachhaltigen sozialen Bewegungen.
Die Sonderausgabe besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil befasst sich mit der Rolle des Vertrauens und der Dynamik des Vertrauensaufbaus innerhalb von Bewegungen, wobei sowohl risikoreicher Aktivismus in besonders repressiven Kontexten, wie zum Beispiel in Hongkong, als auch Netzwerke zivilgesellschaftlicher Organisationen in demokratischen Ländern in Europa, Lateinamerika und Subsahara-Afrika im Fokus stehen. Vertrauen, so kann gezeigt werden, ist dabei kein externer Faktor, sondern wird im Laufe kollektiver Auseinandersetzungen geformt, stabilisiert, geschwächt oder sogar zerstört. Weitere Beiträge widmen sich u. a. der Herausforderung, wie gruppeneigene Identitäten und Interessen innerhalb breiter Koalitionen gewahrt werden können sowie dem Zusammenhang, der zwischen spezifischen Typen von Vertrauen und dem nachhaltigen Bestehen von Bewegungen besteht.
Im zweiten Teil der Sonderausgabe werden die Reaktionen des Staates sowie der Einfluss der Interaktion mit diesem auf die horizontalen Vertrauensbeziehungen innerhalb von Bewegungen in den Mittelpunkt gestellt. Fallstudien, wie die zu Ägypten und Belarus, verdeutlichen einmal mehr die enorme geografische Reichweite des Bandes. Zudem weisen sie nach, dass autoritäre Regierungen erfolgreich vertrauensschädigende Maßnahmen verfolgen und damit die gesellschaftliche Mobilisierung und Protestbeteiligung untergraben können. Umgekehrt zeigt der Blick auf aktivistische Strategien, wie Theorien über demokratische Innovation, Dialog und Vertrauensbildung durch neue empirische Erkenntnisse profitieren: So zeigt Nicole Doerr, Gastforscherin am PRIF, gemeinsam mit Janus Hansen, wie dänische und deutsche Klimaaktivist*innen auf dem Weg zu einer grünen Transformation ihre Position innerhalb und außerhalb staatlicher Institutionen nutzen, um Vertrauen zwischen politischen, behördlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren aufzubauen und unterschiedliche Ideologien und Identitäten zu überbrücken.
Die Sonderausgabe entstand im Rahmen der Forschungsinitiative „ConTrust: Trust in Conflict – Political Life under Conditions of Uncertainty“ von Goethe-Universität und PRIF, die aus Mitteln des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst gefördert wird. Einzelne Beiträge der Ausgabe „Trust and social movements“ sind online verfügbar, darunter auch die Einleitung von Irene Weipert-Fenner, Jonas Wolff et al. steht zum kostenfreien Download bereit. Die Printausgabe folgt im Winter 2024/25.