Die Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) steht angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vor neuen Herausforderungen. Ihre Vertreter*innen sind gefragte Gesprächspartner*innen für Politik und Medien. Kernkonzepte der IB wie Konfliktreife, Eskalationsdominanz oder Machtgleichgewicht haben Eingang auch in außerakademische Debatten gefunden. Aber auch innerhalb der Forschung wird diskutiert, welche Konsequenzen die russische Vollinvasion für die theoretische Ausrichtung und die Forschungspraxis haben sollte.
Das Sonderheft der Zeitschrift für Internationale Beziehungen (ZIB) unter dem Titel „Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Internationalen Beziehungen“ widmet sich diesen Herausforderungen für die deutsche IB in vier thematischen Blöcken:
Der erste Block beleuchtet die Folgen für die Theoriebestände der Internationalen Beziehungen. Gerade in den ersten Monaten nach dem Angriff auf die ganze Ukraine im Februar 2022 wurde oft der Vorwurf geäußert, die IB habe sich zu wenig mit „harten“ sicherheitspolitischen Themen beschäftigt. Realistische und neorealistische Theorien erlebten zunächst einen Aufschwung. Wie sollten Theoriedebatten in den IB nun geführt werden und wozu dienen sie überhaupt?
Im zweiten Block wird die institutionalisierte deutsche Friedens- und Konfliktforschung sowie Sicherheitsforschung betrachtet. In den letzten vierzig Jahren hätten sich, so die These im Artikel von Christopher Daase, Nicole Deitelhoff und Anna Geis, die Friedens- und Konfliktforschung und die sicherheitspolitische Forschung weitgehend verschränkt. Mit dem russischen Angriffskrieg wurde nun die Trennung von Frieden und Sicherheit von manchen Strömungen in den IB wieder stärker akzentuiert.
Die erhöhte Nachfrage nach IB-Expertise in Politik und Medien ist Gegenstand des dritten Blocks. Welche Chancen und Herausforderungen ergeben sich aus dieser neuen Aufmerksamkeit? Wie gehen Wissenschaftler*innen mit Ungewissheiten um, wenn sie um öffentliche Einschätzungen gebeten werden?
Im vierten Block schließlich wird reflektiert, welche Rolle „Westsplaining“ und „epistemischer Imperialismus“ in der Wissensproduktion im deutschen bzw. westlichen IB-Diskurs spielen. Aus ukrainischer Sicht sowie aus der Perspektive des Globalen Südens problematisieren die Beiträge Hierarchien, Unwissen und post-koloniale Beziehungsmuster, die den wissenschaftlichen Diskurs ebenso wie Politik und Alltag prägen.
Das Sonderheft der ZIB wurde herausgegeben von Anna Geis, Nicole Deitelhoff und Carlo Masala. Vom PRIF haben darüber hinaus Christopher Daase und Olena Podvorna Beiträge zu dem Heft verfasst.