Kanada machte im Jahr 2021 mit Altlasten kolonialer Gewalt internationale Schlagzeilen: Quer durch das nordamerikanische Land wurden auf den Geländen ehemaliger Internatsschulen für indigene Kinder und Jugendliche menschliche Überreste gefunden. Die kanadische Öffentlichkeit zeigte sich erschüttert.
Im neuen PRIF Report beschäftigen sich die Autorinnen Friederike Drews und Sabine Mannitz mit der systematischen Gewalt, die im Kontext der kanadischen Geschichte als Teil der Siedlungskolonialpolitik verübt wurde und mit ihren anhaltenden Konsequenzen.
Eine Truth and Reconciliation Commissison (TRC) war bereits im Jahr 2008 eingesetzt worden, um insbesondere die Geschehnisse in den genannten Internatsschulen zu erhellen. Rund 150.000 Kinder indigener Bevölkerungsgruppen waren in Kanada seit Mitte des 19. Jahrhunderts und z.T. bis in die 1990er Jahre durch den Staat zum Besuch solcher Schulen in meist kirchlicher Trägerschaft gezwungen, welche weit von den – ebenfalls staatlich festgelegten – Siedlungsgebieten ihrer Familien entfernt waren. Das Ergebnis der Kommission: Durch das gezielte Entfremden der Kinder von ihren Herkunftsgruppen sei ein "kultureller Genozid" begangen worden.
Im Fokus des Reports steht dieses Konzept des kulturellen Genozids. Wie kann es sein, dass ein Komplex an Verbrechen den Tatbestand eines Genozids erfüllt, dass daraus aber keine 'strafrechtlichen' Konsequenzen abzuleiten sind? Die Antwort ist die nicht eindeutig juristische Kodifizierung des Begriffs. Diesen Lücken der Kodifizierung widmen sich die Autorinnen in einer tiefgehenden Analyse mit Blick zurück auf die politischen Prozesse, die der Schaffung von internationalem Recht vorangingen. Ein Fazit: Zur Aufarbeitung der kolonialen Gewalt braucht es eine Weiterentwicklung des Rechts, aber auch den politischen Willen, sich den komplexen Folgen der Herrschaftsgeschichte in der heutigen Gesellschaft zu stellen. Solange der Schock über die verscharrten Kinderleichen in der kanadischen Gesellschaft noch nicht abgeklungen ist, bietet sich für den nordamerikanischen Staat die Chance, einen rechtlich-politisch verschränkten Aufarbeitungsprozess in die Wege zu leiten, von dem auch andere ehemalige Kolonialstaaten lernen könnten.
Friederike Drews studiert im Master International Criminal Justice an der Philipps-Universität in Marburg. Sie hat während ihres Praktikums an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung an dem Report mitgearbeitet.
Der Report ist auch auf Englisch erschienen.
Download (auf Deutsch): Drews, Friederike/Mannitz, Sabine (2021): Probleme der Aufarbeitung kulturellen Genozids. Rechtliche Regelungslücken und politische Defizite am Beispiel Kanadas, PRIF Report 7/2021.
Download (auf Englisch): Mannitz, Sabine/Drews, Friederike (2022): Canada's Violent Legacy. How the Processing of Cultural Genocide is Hampered by Political Deficits and Gaps in International Law, PRIF Report 3/2022.