Drifting Apart: Internationale Institutionen in der Krise und das Management von Dissoziationsprozessen
Austritte aus internationalen Organisationen oder aus internationalen Vereinbarungen haben in den letzten Jahren immer wieder die internationale Politik beschäftigt. Beispiele reichen vom Brexit über den vorübergehenden Austritt der USA aus der Pariser Klimavereinbarung bis zu den Austritten Burundis und der Philippinen aus dem Internationalen Strafgerichtshof.
Solche Austritte belasten nicht nur die betroffenen Institutionen. Sie können auch die Beziehungen zwischen den Staaten, die austreten und jenen, die die Institution erhalten wollen, dauerhaft belasten.
Das interdisziplinäre Projekt Drifting Apart (2019-2023) konnte zeigen, dass besonders dann dauerhafte Spannungen zwischen den beteiligten Staaten entstehen, wenn die Dissoziation als Ausdruck eines Wertekonflikts wahrgenommen wird -- wenn der Austritt also nicht vor allem als Auseinandersetzung über Geld oder Einfluss verstanden wird, sondern als Zeichen dafür, dass die früheren Partner nun grundlegend unterschiedliche Wertvorstellungen verfolgen. Außerdem ist Dissoziation häufig in weitere strategische Konflikte zwischen den beteiligten Staaten sowie in innenpolitische Auseinandersetzungen eingebettet. Beides macht es noch schwieriger, diese Konflikte zu isolieren und Spannungen zwischen den beiden Seiten zu verringern.
Das Projekt war unter Federführung von PRIF im Leibniz-Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“ entwickelt worden und brachte vier Leibniz-Institute zusammen: neben PRIF das German Institute of Global and Area Studies (GIGA, Hamburg), das Institut für Zeitgeschichte (IfZ, München) und das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF, Potsdam). Sie untersuchten fünf historische und aktuelle Fälle von Dissoziation:
Unter Schah Mohammed Reza Pahlavi stellte Iran einen wichtigen Partner für den Westen im Mittleren Osten dar, der ökonomisch, politisch und institutionell mit den USA und westeuropäischen Ländern verknüpft war. Nach der iranischen Revolution 1979 änderten sich die internationalen Beziehungen zwischen Iran und der Welt grundlegend.
Bestehende Kooperationsstrukturen mit westlichen Staaten wurden, der revolutionären Losung „Weder Ost noch West“ folgend, aufgelöst; die Beziehungsmuster wurden zunehmend konfrontativer. Jedoch war der Weg Irans zum Pariastaat weniger geradlinig als es aus heutiger Sicht erscheinen könnte. Auch handelte „der Westen“ keineswegs als monolithischer Block.
Die am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) von Daniel Walter durchgeführte Fallstudie untersucht Prozesse der internationalen sowie institutionellen Dissoziation und Neuorientierung Irans.
Nach dem Ende des Ost-West Konflikts verpflichteten sich Russland und die westlichen Staaten bzw. Institutionen mit Schlagworten wie „gemeinsames Haus Europa“ oder „Europe, whole and free“ auf das Ziel einer gesamteuropäischen Friedensordnung.
In gemeinsamen Dokumenten wie der Pariser Charta einigten sich beide Seiten auf die Grundsätze einer solchen Ordnung, interpretierten dabei allerdings die Gewichtung der dort kodizifierten sozialen Normen und Regeln unterschiedlich. Enttäuschungen auf beiden Seiten über die Umsetzung und die Entwicklung dieser institutionellen Ordnung führten zu einer allmählichen Entfremdung und einem sukzessiven Ausstieg Russlands aus den gemeinsamen Institutionen. Die daraus resultierenden Spannungen stellen eine der größten Herausforderungen für die heutige europäische Sicherheitspolitik dar.
Mikhail Polianskii von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) rekonstruiert und analysiert diesen Dissoziationsprozess und das Spannungsniveau zwischen den beteiligten Staaten.
Der Warschauer Pakt, 1955 unter der Führung der Sowjetunion als Verteidigungsallianz gegründet, geriet mit dem Abschied von der Brežnev-Doktrin, durch die Perestroika-Reformen und besonders durch die demokratischen Entwicklungen in den mittelosteuropäischen Staaten sowie dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 zunehmend unter Druck.
Zunächst hielt die Mehrheit der Vertreter der Mitgliedsstaaten zwar am Fortbestand einer reformierten Organisation fest. Nicht zuletzt der sich anbahnende Austritt der DDR aus der Organisation stellte jedoch auch für andere nichtsowjetische Bündnisstaaten die Mitgliedschaft im Pakt in Frage. Der Versuch, den Warschauer Pakt in eine politische Organisation umzuwandeln, scheiterte und der Pakt löste sich im Juli 1991 auf, noch bevor die Sowjetunion zerfiel.
Das Ende des Warschauer Pakts ist ein Beispiel für eine Auflösung einer internationalen Institution durch die Mitgliedsstaaten. Die Studie rekonstruiert Reformversuche und Erwartungen an die Zukunft des Bündnisses sowie die fortschreitenden Dissoziationsprozesse. Sie fragt nach Interessenlagen und Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten, wobei die Sowjetunion im Zentrum der Analyse steht. Die Fallstudie zur Auflösung des Warschauer Paktes wird am Berliner Kolleg Kalter Krieg/ Institut für Zeitgeschichte München-Berlin von Susanne Maslanka bearbeitet.
Die Dissoziation Chinas von der globalen Finanzarchitektur stellt einen Fall des Aufbaus alternativer Institutionen dar.
Die Volksrepublik äußerte immer wieder Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung und plädierte für eine Umgestaltung, die eine fairere Machtverteilung erreichen sollte.
Da diesen Reformaufrufen nur begrenzt nachgekommen wurde, bleibt China zwar weiterhin Mitglied in den Institutionen der Weltbank und im Internationalen Währungsfond, gründete aber gemeinsam mit anderen Staaten die Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) und die New Development Bank (NDB). Insbesondere die USA nehmen diesen Aufbau von Alternativinstitutionen als Versuch wahr, in Konkurrenz zur den zentralen Institutionen der liberalen Weltordnung zu treten.
Am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) erforscht Dr. Sinan Chu , wie der Dissoziationsprozess die chinesisch-amerikanische Beziehung beeinflusst und zu den Spannungen zwischen den beiden Rivalen beiträgt.
Als erster Staat strebt Großbritannien seit dem Referendum im Juni 2016 den Austritt aus der Europäischen Union an.
Unter den verschiedenen Fallstudien des Projekts stellt der Brexit den einzigen Fall des formalen Austritts aus einer internationalen Organisation dar und den einzigen Fall, bei dem die Konfliktlinie der Dissoziation durch die Gruppe der westlichen Demokratien verläuft. Auch ist die EU eine Institution mit einem außergewöhnlich hohen Integrationsgrad, in der die Wertedimension eine große Rolle spielt. Die Verhandlungen der letzten Jahre haben gezeigt, wie überaus schwierig sich die Dissoziation von einer solchen Institution gestalten kann.
Dr. Dirk Peters von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) zeichnet die den Brexit-Prozess begleitenden Spannungen zwischen Großbritannien und der EU sowie ausgewählten Mitgliedsstaaten nach und untersucht den Diskurs sowohl auf internationaler Ebene als auch innerhalb der britischen Gesellschaft.
Die Ergebnisse wurden in einem Forum der interdisziplinären Zeitschrift Historical Social Research veröffentlicht. Das Projekt wurde durch die Leibniz-Gemeinschaft aus Mitteln des Leibniz-Wettbewerbs gefördert.
- Dembinski, Matthias / Peters, Dirk (2022): Drifting Apart: Examining the Consequences of States' Dissociation from International Cooperation - A Framework, in: Historical Social Research, 47:2, 7–32.
https://doi.org/10.12759/hsr.47.2022.14 - Bösch, Frank/Walter Daniel, Iran’s Dissociation from Cooperation with the West between the 1960s and 1980s, in: Historical Social Research 47.2 (2022): S. 33-52.
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https://doi.org/10.12759/hsr.47.2022.16 - Polianskii, Mikhail (2022). “The Perils of Ruxit: Russia’s Tension-Ridden Dissociation from the European Security Order.” Historical Social Research 47 (2): 77–108. doi: .
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https://doi.org/10.12759/hsr.47.2022.18 - Peters, Dirk (2022): Brexit: The Perils of Dissociation by Negotiation, in: Historical Social Research, 47:2, 138–163 .
https://doi.org/10.12759/hsr.47.2022.19
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https://doi.org/10.1093/isq/sqae034 - Dembinski, Matthias / Peters, Dirk (2023): Decoupling and the “New Cold War”: Cautionary Lessons from the Past , PRIF Blog, 24.4.2023.
https://blog.prif.org/2023/04/24/decoupling-and-the-new-cold-war-cautionary-lessons-from-the-past - Dembinski, Matthias/Michnik, Wojciech/Halushka, Olena/Kransoshtan, Iryna (2023): Perspektiven auf das NATO-Ukraine-Verhältnis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 47-48/2023, 17–27.
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/nato-2023/542776/perspektiven-auf-das-nato-ukraine-verhaeltnis/ - Dembinski, Matthias / Spanger, Hans-Joachim (2022): The Future of the OSCE in the Shadow of Russia's War Against Ukraine, in: Friesendorf, Cornelius/Wolff, Stefan (eds), Russia’s War Against Ukraine: Implications for the Future of the OSCE, (OSCE Network Perspectives I/2022), Hamburg: OSCE Network of Think Tanks and Academic Institutions, 22–25.
https://osce-network.net/fileadmin/user_upload/OSCE_Network_Perspectives_2022_20June_final.pdf - Dembinski, Matthias / Polianskii, Mikhail (2021): Russia and the West: Causes of Tensions and Strategies for their Mitigation, in: Russia and the Contemporary World, 110:1, 5-20
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https://doi.org/10.31278/1810-6374-2021-19-4-36-58 - Dembinski, Matthias / Peters, Dirk (2020): Krise internationaler Institutionen, in: Bösch, Frank/Deitelhoff, Nicole/Kroll, Stefan (Hg.), Handbuch Krisenforschung, Wiesbaden: Springer VS, 135–154
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- Dembinski, Matthias/Peters, Dirk: "Dissoziation als Friedensstrategie? Konturen eines Forschungsprogramms" in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 26:2 (2019), 88-105.
https://doi.org/10.5771/0946-7165-2019-2-88
Mitglieder
PRIF
Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA)
- Prof. Dr. Sandra Destradi
- Prof. Dr. Heike Holbig
- Dr. Sinan Chu
Institut für Zeitgeschichte (IfZ)/Berliner Kolleg Kalter Krieg (BKKK)
- Prof. Dr. Elke Seefried
- Dr. Agnes von Bressensdorf
- Susanne Maslanka
Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF)
- Prof. Dr. Frank Bösch
- Daniel Walter